Umweltverbände organisieren Negativpreis „Vulgarius“ und laden zum Tag gegen den Lärm zur Abstimmung ein / Vier Kandidaten zur Auswahl / Ziel: Sensibilisierung für das verkannte Umweltgift Lärm
Stuttgart. Deutschland hat ein Verkehrslärmproblem: 54 Prozent der Bundesbürger fühlen sich durch Straßenverkehrslärm beeinträchtigt. Hinzu kommen Flug- und Schienenlärm. Lärm macht krank und eine Meta-Studie des Umweltbundesamts belegt, dass heute die Zahl der herzinfarktbezogenen Todesfälle die der Verkehrstoten übersteigt. Milliarden werden folgerichtig in den baulichen Lärmschutz an Verkehrswegen investiert. Paradox: Auf der anderen Seite wird auch kräftig in den Lärm investiert. Denn es gibt viele Verkehrsteilnehmer, die bereit sind, für „Sound“ Geld auszugeben, und das dazu passende Angebot der Hersteller. Das thematisieren die Vereinigten Arbeitsgemeinschaften gegen Motorradlärm e.V. und der Bund für Umwelt und Naturschutz mit seiner Aktion „Vulgarius“ zum Tag gegen den Lärm am 26. April 2017 auf www.vulgarius.de
Elektronisches oder mechanisches „Sounddesign“
Das Angebot der Fahrzeugindustrie reicht vom elektronischen Sounddesign über Klappenauspuffe bis hin zu Zubehörauspuffen zwielichtiger Herkunft: Die Vereinigten Arbeitsgemeinschaften gegen Motorradlärm e.V. (VAGM) und der BUND weisen darauf hin, dass diese technischen Eingriffe die Fahrzeuge lauter machen und für zusätzliche Belästigung der Straßenanwohner sorgen: „Die einen kaufen Lärmauspuffe, die anderen Lärmschutzfenster – das ist eine widersinnige Form von Kreislaufwirtschaft“, sagt Holger Siegel, Sprecher des Arbeitskreises Motorradlärm im BUND. Vier krasse Beispiele haben VAGM und BUND auf der Internetseite www.vulgarius.de aufgelistet und stellen sie Besuchern zur Wahl und Abstimmung: Vom Automobilkonzern, der serienmäßige Sportfahrzeuge auf seiner privaten Teststrecke wegen der Anwohner nur noch akustisch gedimmt fahren lässt (im Straßenverkehr aber röhren die Boliden serienmäßig weiter), bis zur Motorradmarke, die sich vom Paulus zum Saulus gewandelt hat: früher mustergültig leise, heute akustisch vulgär.
Sylvia Pilarsky-Grosch, Landesgeschäftsführerin des BUND Baden-Württemberg: „Zu viel Lärm macht bekanntlich krank. Der sogenannte Auspuffsound ist nichts anderes als ganz ordinärer Lärm, von dem Menschen beeinträchtigt werden. Warum also vielen Leuten unnötig was auf die Ohren geben, damit wenige andere auf Kosten der Allgemeinheit ihre Vorlieben ausleben können?“
Zielgruppe der Hersteller: Poser und Lärmer
Das Manipulationsmuster der Hersteller sei vergleichbar dem „Cycle Beating“ beim Diesel-Skandal, so Holger Siegel: Seit Jahren unternehmen einige Fahrzeug- und Zubehörhersteller jeden möglichen Trick, um die Klientel der Lärmer und Poser zu bedienen. Auf dem Papier werden die Fahrzeuge immer leiser – in der Praxis werden sie häufig um ein Vielfaches lauter; und wo sich der Verkehr dieser Fahrzeuge ballt, büßen die Menschen mit Gesundheit, Lebensqualität und Vermögensschäden. Die Vorkommnisse um Auto-Poser in Mannheim, Bremerhaven, Frankfurt oder Berlin zeigen, dass das Auspuffmanipulieren gerade in den Innenstädten ein akutes Problem darstellt. Gleiches gilt für viele Naherholungsgebiete: Von der Schwarzwaldhochstraße bis ins Sauerland, vom Bergischen Land bis in den Schwäbisch-Fränkischen Wald zieht sich die Lärmschleppe der mutwillig lauten Motorräder.
Der mutwillige Lärm verstoße elementar gegen die Regeln der Straße: In § 1 der Straßenverkehrsordnung (STVO) und in § 49 der Straßenverkehrszulassungsordnung (StVZO) ist geregelt, dass vermeidbare Lärmbelästigung unrechtmäßig ist und dass Kraftfahrzeuge so beschaffen sein müssen, dass die Geräuschentwicklung das nach dem jeweiligen Stand der Technik unvermeidbare Maß nicht übersteigt. Die Forderungen aus dieser Erkenntnis: Rechts- oder Verwaltungsregeln zur Durchsetzung von Gesetzen dürfen nicht länger ermöglichen, dass Lärmverstärker legal eingebaut werden. Holger Siegel: „Heute lassen sich nur die ganz dummen Tore mit herausgenommenem Endschalldämpfer oder groben Manipulationen erwischen. Die legalen Krachmacher tauchen in keiner Polizeistatistik mehr auf.“
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